Skycap (2014)
von: Lena Grundmann, Clemens Grün
"Wie klingt eigentlich jüdische Musik?" Das fragten sich der in London lebende Lemez Lovas von der Band Oi Va Voi und der als Mitbegründer der legendären Tanzveranstaltung Russendisko bekannte Wahlberliner Yuriy Gurzhy. Beide lernten sich kennen, als Lemez Yuriys Band Rotfront zu einem Konzert nach London einludt und sie anschliessend gemeinsam als DJs auflegten. Dabei stellten sie fest, dass beide passionierte Musiksammler sind, mit einem besonderen, in ihrer eigenen Biographie angelegten Interesse für jüdische Musik. Sie tauschten CDs mit ihren neuesten Entdeckungen aus und blieben in engem Kontakt. Das Ergebnis dieser Korrspondenz publizierten sie 2006 auf dem Sampler "Shtetl Superstars - Funky Jewish Sounds From Around The World", einer Sammlung von 19 Songs von Bands mit jüdischen Wurzeln aus Europa, Nordamerika und Israel.
Eigentlich hatten sie jedoch einen ganz anderen Sound im Ohr, wenn sie an moderne, jüdische Popmusik dachten. Die Vorstellung, dass eine typisch jüdische Band von heute aus Israel kommen und klassischen Klezmer spielen müsste, erschien ihnen beinahe absurd. Also beschlossen sie kurzerhand, eine eigene Band zu gründen: die Shtetl Superstars. Der Name ist ein Wortspiel mit dem jiddischen Wort Shtetl, der Bezeichnung für eine Kleinstadt mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung. Die Shtetl Superstars verkörpern den Sound moderner jüdischer Musik und das urbane Lebensgefühl einer Generation, die in über die ganze Welt verstreuten Communities lebt, und ihr Heil im Zweifel lieber in der künstlerischen Avantgarde sucht als im traditionellen jüdischen Brauchtum.
Die zehn Songs des Albums "A Day In The Life" sind sowohl in Yuriys Berliner Wohnung, als auch in einem Londoner Studio entstanden. Einige Künstler des 2006 erschienenen Samplers haben einen Beitrag zu dem Album geleistet, darunter Alec Kopyt von der Amsterdam Klezmer Band oder Uri Kinrot und Produzent Yaniv Fridel, die sonst mit der New Yorker Balkan Beat Box unterwegs sind. Karolina, selbst sehr erfolgreich mit ihrer israelischen Soul- und Folkband Habanot Neshama, und Mayia James leihen den Shtetl Superstars ihre Stimmen.
Einer bestimmten Genre-Schublade ist das Album nicht zuzuordnen: HipHop, Reggae, Ragga, Surf, Pop und elektronische Klänge gehen eine Symbiose ein mit typischen Klezmer-Rhythmen, Melodien und Instrumenten wie dem Akkordeon oder dem Euphonium, einem der Tuba ähnlichen Blechblasinstrument. Die Grundstimmung ist feierlich, aber eher nach Art einer Filmmusik irgendwo zwischen "Time of the Gipsies" und "Pulp Fiction", die eine dichte, lebendige Athmosphäre schafft, ohne dabei zwingend zum Tanzen animieren zu wollen.
Die hintersinnigen Texte werden auf Englisch und Jiddisch gesungen und folgen einem roten Faden, der - gern mit einem ironischen Augenzwinkern - vom Leben in der Diaspora und dem täglichen Kampf ums Überleben erzählt. In der richtigen Reihenfolge, entsteht die Geschichte eines Migranten, der versucht, in die EU zu kommen ("Schengen Visa Wedding"), sich dort mit Startschwierigkeiten ("Funny Englisch") einlebt, sich aber immer seiner Wurzeln ("Butterfly Hora") erinnert. Bei aller naturgemäßen Sentimentalität, die bei diesem Thema mitschwingt - ein autobiographisch gefärbter Flüchtlingsplot mit gutem Ausgang? So tausendfach das im wirklichen Leben auch stattfinden mag: Eine solche Erfolgsstory hört man dann doch nicht alle Tage.