Essay Recordings (2015)
von: Clemens Grün & Meret Reh
Kosmopolit, Weltenbummler, Entdecker - Stefan Hantel, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Shantel, ist stets auf der Suche nach neuer Musik. So wurde er auch zum unbestrittenen Pionier des Balkanpops. Sein Bucovina Club traf kurz nach der Jahrtausendwende den Nerv der Zeit, lieferte den Soundtrack für die politische Osterweiterung und inspirierte unzählige Nachahmer, osteuropäischen Folk mit elektronischer Musik zu verbinden.
In den letzten Jahren ist es etwas ruhiger geworden um das Genre der Offbeats und energetischen Bläsersätze. Zeit für Shantel, sich wieder seinem Kerngeschäft zu widmen: dem Austüfteln neuer Sounds im Studio. Und diese Zeit hat er genutzt: „Viva Diaspora“ ist Shantels facettenreichste Arbeit seit langem. Dabei begibt sich der Frankfurter Musiker, DJ und Produzent wieder einmal auf musikalische Entdeckungsreise in die Welt seiner Vorfahren.
Diaspora, abgeleitet vom lateinischen Wort Dispersion, bedeutet wörtlich Verteilung oder Zerstreuung. Dieses Thema war schon immer Dreh- und Angelpunkt von Shantels künstlerischer Arbeit. Aus guten Gründen, denn seine Familie ist über ganz Europa verstreut. Shantels Musik kann als permanenter Versuch gedeutet werden, die negative Besetzung einer zerstreuten und damit von ihrem Wesen her zerrissenen Identität positiv umzudeuten.
Für sein neues Album ließ Shantel sich von griechisch-orientalischen Klängen inspirieren. Viel Zeit verbrachte er dabei in Athen, das keineswegs Neuland für ihn war. In seiner Kindheit durfte er im Sommer regelmäßig die Heimat seiner Großeltern in Rumänien und Griechenland bereisen. Auf der Autofahrt hörte die Familie oft gemeinsam griechische Volksmusik, deren Klänge Shantel bis heute nicht loslassen.
Charakteristisch für diese Musik ist der Sound von Smyrna, der Wiege griechisch-orientalischer Musik. Die Mittelmeermetropole, die 1922 durch einen Brand zerstört wurde, ist heute unter dem türkischen Namen Izmir bekannt. Ein Schmelztiegel der Kulturen, die sich gegenseitig befruchteten. Daraus entstand eine einzigartige, vielschichtige Musik, bei der über orientalische Rhythmen und Harmonien improvisiert wird.
Für sein neues Album suchte Shantel nach Musikern, die die alten Instrumente spielen – wie die türkische Laute oder das Saiteninstrument Santur. „Viva Diaspora“ transportiert den Sound traditioneller mediterraner Musik auf akustischen Instrumenten – und zeigt, wie diese Musik heute klingt. Neben zahlreichen Interpreten traditioneller Musik holte Shantel sich für „Acid Greeks“ und „The Streets Where the Kids Have Fun“ auch Imam Baildi ins Boot - als Pioniere des griechischen Elektrofolks Shantels natürliche Geschwister im Geiste.
Im Interview mit multicult.fm erzählt Shantel, wie er seine Arbeit versteht: als ein Projekt mit Künstlern, die einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund haben, aber die Leidenschaft und Freude teilen, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Wie zum Beispiel mit der jungen Folkmusikerin und Sängerin Areti Ketime, weltweit bekannt durch ihren Auftritt bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 2004. Shantel schwärmt von ihrer „ätherischen Stimme“, die sich tief in das Gehör der Zuhörer grabe und sie einlade auf eine Reise in bunte Farben und warme Klänge.
Ein Gruß gen Osten, über alle Grenzen Griechenlands und der Türkei hinweg in den Orient - und das passende Video zum Song „East-West: Dysi ki Anatoli“ gibt eindrucksvoll auch den Menschen hinter der griechischen Finanzkrise ein Gesicht. „Viva Diaspora“ klingt wie Kino für die Ohren. Ein Roadmovie mit den Stationen Athen, Frankfurt, Paris, Brooklyn und Istanbul. Das Reisen sieht Shantel nicht als Mittel zur Inspiration, sondern als Quelle, um das Leck der eigenen kulturellen Zerrissenheit zu füllen.
Aus Orientierungslosigkeit schöpft Shantel Ideen und kreative Impulse, um aus der täglichen Routine auszubrechen und nach neuen Herausforderungen zu suchen. Auch der Song „Hey Girl“ ist eine Einladung. „Hey Girl, spiel mit mir. Ich zeig dir Dinge, die du noch nie gesehen hast.“ Mit orientalischen Klängen traditioneller Zupfinstrumente lädt Shantel seine Zuhörer ein, sich auf das Ungewisse einzulassen und neue Wege zu beschreiten. Der rote Faden in Shantels künstlerischer Vita und irgendwie auch ein sehr passender Kommentar zur aktuellen Flüchtlingskrise.