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Rotfront - 17 Deutsche Tänze

GMO - The Label (2014)

von: Lena Grundmann, Clemens Grün

Kurz nach der Jahrtausendwende war die Gegend zwischen Schönhauser Allee und Oranienburger Strasse tatsächlich einmal die hippste Ecke der Stadt. Auf der Suche nach einer richtig guten Sause mit speziellem Berliner Flair, auf der man bis in die Puppen feiern konnte, war man hier an jedem beliebigen Wochentag bestens aufgehoben. Daran hatte die vom späteren Bestsellerautor Wladimir Kaminer und Yuriy Gurzhy initiierte, längst legendäre Russendisko im Kaffee Burger, mit der sich die ehemalige Mauerstadt auch subkulturell als neues Tor nach Osteuropa profilierte, einen nicht zu unterschätzenden Anteil.

Ein Kind dieser Zeit ist das 2003 von Gurzhy, gemeinsam mit dem Gitarristen und Produzenten Simon Wahorn, gegründete "Emigranski Raggamuffin"-Kollektiv Rotfront. Nachdem Mitte und Prenzlauer Berg inzwischen eher für Holzspielzeug und ökologisch vertretbare Lebensmittel stehen und die Partyszene sich dort weitgehend verflüchtigt hat, verorten die Künstler sich heute zwar nicht mehr - wie noch in der ewigen Berlin-Hymne "B-Style" - zwischen Pankow und Anklamer Strasse, sondern schwelgen mit dem ähnlich ohrwurmtauglichen "1990s" folgerichtig lieber in der guten alten Zeit der Kreuzberger Wendejahre. Die Szene zu überleben, aus der sie hervorgegangen sind - das können nicht viele Bands von sich sagen.

Aber natürlich fühlt sich ein Vielnationenprojekt wie Rotfront auch zwischen Oberbaumbrücke und Viktoriapark zu Hause: Yuriy Gurzhy, der jüdische Ukrainer mit russischer Muttersprache, der sich als Botschafter und Erneuerer des Klezmer sieht, der Ungar Simon Wahorn, der australische Saxophonist Dan Freeman und neuerdings die zauberhafte, von der sonnigen bulgarischen Schwarzmeerküste stammende Sängerin Katya Tasheva bringen allerlei Migrationsgeschichte auf die Bühne. Der Berliner Rapper Mad Milian sorgt für den Lokalkolorit. Produzent Kraans de Lutin hat aus seinen Phlexton-Studios in der Schlesischen Straße einst schon die Multikulti-Truppe Culcha Candela in den Pophimmel katapultiert.

Und natürlich ist der "Berlin-Style", ohne dass man darüber singen müsste, als Marketing-Attribut auf internationaler Bühne längst mindestens so effektiv wie der "London Underground" oder der "Esprit Parisien". So werden Rotfront, ungeachtet der unterschiedlichen Himmelsrichtungen, die sich hier kreuzen, und der Tatsache, dass - abgesehen von Mad Milian, Posaunistin Anke Lucks und Klarinettist Max Hacker - keines der aktuellen Mitglieder aus Deutschland stammt, dort vornehmlich als "deutsche" Band wahrgenommen. Ein guter Grund für die Beteiligten, sich einmal näher mit ihrer "Heimat" zu beschäftigen. Der Titel des Albums "17 Deutsche Tänze" lehnt sich an Haydns "12 Deutsche Tänze" an, auch Bach, Beethoven und Wagner wird mit Songtiteln Referenz erwiesen, und in "A Girl from Bayreuth" ist Rotfront erstmals mit einem Streichorchester zu hören.

Doch auch wenn "In Paris" ruhigere Töne anschlägt und hier gemeinsam mit Marla Blumenblatt fast ein Chanson entsteht, zeigen Songs wie der Flo-Mega-Feature "Everyone Speaks Russian" oder "Case of Drugs", die reißerische Geschichte eines Drogenkoffers, dass das Ensemble in der Schublade mit der Aufschrift "erwachsen" falsch wäre. Tatsächlich klingen Rotfront mit ihrem unorthodoxen, um weitere Facetten erweiterten Stilmix aus Reggae, Ska, HipHop, Punk, Polka, Klezmer, Cumbia und Soul, der bissig-ironischen Art, ihre Geschichten zu erzählen, und diesem gewissen Funken Verrücktheit, der insbesondere bei ihren energiegeladenen Live- Auftritten zu spüren ist, im elften Jahr ihres Bestehens so frisch und verspielt wie eh und je.

Bei allem partytauglichen Tempo und Wortwitz bleiben die "17 Deutschen Tänze" aber insbesondere eins: das flammende Plädoyer für ein vereintes Europa.

Am 2. Mai feiert Rotfront Record Release im Berliner Astra.