Dingjarecords (2015)
von: Meret Reh, Clemens Grün & Felix Hackenbruch
Ein stolpernder Briefträger, ein verregneter Sommertag, eine springende Schallplatte, eine durchzechte Nacht oder ein renitenter Weinkorken können der Auslöser für einen Noë-Song sein. Aus Momentaufnahmen und Assoziationen entstehen die Texte und Songideen von Sänger und Gitarrist Stephan Noë. Die fünfköpfige Band gibt es seit 2008. 2010 veröffentlichten die Künstler ihr Debütalbum „PingPong“, nun ist ihr neues Album „Unter Eis“ erschienen.
Noës Songs sind im Grunde vertonte Gedichte. In jedem Song aufs Neue und in jeweils unterschiedlicher Besetzung definieren die Künstler ihren vielfältigen und doch unverkennbaren Stilmix, der irgendwo zwischen Jazz, Rock, Chanson, Reggae, Ska und verschiedenen Spielarten der Weltmusik angesiedelt ist. Neben Gitarre, Bass, Schlagzeug, Saxophon, Posaune, Glockenspiel und Melodica, einer Art Mini-Klavier zum Hineinblasen, tummeln sich hier allerlei Gäste mit Streich- und Blasinstrumenten.
Letztlich geht es dabei immer um die adäquate musikalische Umsetzung für Stephan Noës beziehungsreiche, poetische Texte, die oft überraschen und zum Schmunzeln anregen. Mit einem Rausch der Bilder entführen Noë das Publikum in eine Traumwelt zwischen Fiktion und Realität. Dass der Sänger sich dabei ausschließlich seiner deutschen Muttersprache bedient, liegt für den ehemaligen Punkrocker und Skamusiker, wie er im Interview mit multuclt.fm erzählt, in der Natur der Sache.
Insbesondere mit dem Wasser scheint den Dichter eine besondere Beziehung zu verbinden. In „Der große Fang“ taucht Noë ab, um in nostalgischen Erinnerungen an das Berlin der 90er Jahre zu schwelgen und das Spießertum und die Gentrifizierung der Gegenwart zu beklagen. Im „Schleusenwärter“ geht Noë auf die Reise von der Spree über die Elbe. Während seines morgendlichen Kaffees hatte der Liedermacher einer Meldung im Radio gelauscht, die einen Streik der Schleusenwärter verkündete. Daraus machte er einen Reisebericht, in dem sich ein Schlauchbootfahrer seinen Weg von Berlin zur Nordsee bahnt und schließlich „aufs offene Meer hinaussegelt“.
Der Titelsong „Unter Eis“ symbolisiert für Noë einen Ort des Rückzugs in einer sich immer schneller drehenden, von Konsum und Profitstreben geprägten Welt. Dabei geht es nicht nur darum, die Gesellschaft zu kritisieren, sondern seinen ganz eigenen Weg zu Ruhe und Entschleunigung zu finden. Eine Möglichkeit sei, so Noë, es sich in einer „Höhle unter Eis“ bequem zu machen. Das surreale Bild findet sich auch auf dem handgefalteten Booklet des Albums. Während „Unter Eis“ sich von einer meditativen Stimmung zu Freejazz-Bläsern steigert, ist „Sommer in Berlin“ eine eingängige Berlin-Hymne, die sich gleichwohl klassischen Erzählmustern verweigert.
Das passende Musikvideo drehte die Band - gewohnt kreativ und symbolträchtig - gleich zweimal auf dem Tempelhofer Feld. Einmal im Sommer und einmal in einem tief verschneiten Berlin. Dabei gelingt Noë das Kunststück, mit einem Text, der im Grunde vom Stillstand handelt, zugleich eine motivierende Botschaft zu vermitteln. Denn während das lyrische Ich hier im nicht endenwollenden Regen steht, erkennt es eine wichtige Quintessenz des Lebens: Gibt das Leben dir Zitronen, mach Limonade draus.
Von der Kehrseite eines brühend-heißen Sommers handelt der Song „So heiß“: „In den Bächern schmilzt das Eis, Blumen welken, Hitze legt alles lahm“. Ob der Autor hier den Klimawandel kritisiert oder einfach nur unter klebrig-schwitzigen Klamotten leidet, bleibt offen. Noës Faible für Skurriles spiegelt auch der Song „Im freien Fall“ wider. Dabei verlässt er sein gewohntes Berliner Umfeld und begleitet den tragikomischen Tod eines aufopferungsvollen brasilianischen Priesters. Um gegen die schlechte Finanzierung der Autobahnkirche zu demonstrieren, hatte dieser sich an unzählige Gasluftballons gekettet – und war im Himmel über dem Ozean verschwunden.
Stephan Noës persönlicher Lieblingssong schliesslich ist dem dem „Daumenklavier“ gewidmet. Inhaltlich geht es dabei um eine Beziehungskiste, ansonsten ist der Titel Programm, denn tatsächlich wird das Stück von einem in Fachkreisen Kalimba genannten „Daumenklavier“ begleitet. Das ursprünglich aus Malawi stammende Instrument ist vor allem im südlichen Afrika beliebt, weil es einfach und billig herzustellen ist und dabei wunderschöne, Xylophon-ähnliche Töne erzeugt. Mit der Unterstützung von Sängerin und Kalimba-Spielerin Phia und Budzillus-Klarinettist Thomas Prestin wird der Song zu einem charmanten Patchwork Gleichgesinnter, das die Hörgewohnheiten des Publikums einmal mehr auf sehr unterhaltsame Weise auf die Probe stellt.