Six Degrees Records (2014)
von: Lena Grundmann, Clemens Grün
"Disco e Progresso" heisst das vierte Studioalbum der in der Schweiz lebenden brasilianischen Sängerin Da Cruz. Vollgepackt mit 20, mit der Energie des Zuckerhutes aufgeladenen Songs, und einem Remix, ist es nicht nur ihre umfangreichste, sondern auch bislang künstlerisch kompletteste Veröffentlichung. Daran haben ihre Mitmusiker großen Anteil, allen voran Produzent Ane H, der aus der Jazz- und der New Wave-Szene kam und sich mit der Industrialband "Swamp Terrorists" einen Namen machte, für die auch schon Schlagzeuger Pit Lee sein ambitioniertes Tag- und Nachtwerk verrichtete. Der Schweizer Gitarrist Oliver Husmann hat hingegen lange in Brasilien gelebt und sich dort das für die unverwechselbaren Rhythmen der brasilianischen Populärmusik notwendige Handwerkszeug angeeignet.
Auch die junge Mariana da Cruz verdiente ihren Lebensunterhalt, nachdem sie das Singen im Kirchenchor gelernt hatte, als Interpretin klassischer Bossa Novas, zuerst in São Paulo, dann in Lissabon, dem lusaphonen Europa, wo viele brasilianische "Desillusionierte" ihrer Generation ihr Glück versuchten. Dort traf sie während eines Auftrittes in einem Pub Ane H, der fasziniert war von der charismatischen Sängerin und der intuitiven Idee einer transglobalen Fusion von Elektro-Pop und akustischem Jazz mit brasilianischem Flavour. Der internationale Durchbruch gelang 2008 mit dem Album "Corpo Elétrico", fulminant eröffnet mit einer im "Doors"-Stil wabernden Orgel und einer von Fela Kuti inspirierten Zeremonienmeisterin, deren eindringliche Performance weit über die Weltmusik-Nische hinaus Widerhall fand.
Die Verbindung vermeintlich unvereinbarer Gegensätze setzt auch die neue Publikation fort, bezeichnenderweise ein Doppelalbum mit einer hellen ("bright") und einer dunklen ("dark") Seite. Eine Dialektik, die auch der Albumtitel "Disco e Progresso" vermittelt, wobei der "Disco"-Begriff auf die musikalisch in Brasilien sehr produktive Ära der 70er und 80er Jahre, und den bis heute lebendigen, von Interpreten wie Ed Motta verkörperten Einfluss des Funk auf die hiesige Popkultur, verweist. Hier stehen akustische und eher karnevaleske Elemente im Vordergrund, stellvertretend etwa die Singleauskopplung "Bola da Discoteca", eine klassische Diskonummer in jenem Stil, der gerade in ganz Lateinamerika, zum Beispiel in Gestalt der kolumbianischen "Bomba Estéreo", ein Revival zu erleben scheint.
Im zweiten, explizit sozialkritischen Teil des Albums dominieren dagegen elektronische Klänge. Der Begriff des "Progresso" (Fortschritt) bilanziert einerseits die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte und ist andererseits als politische Forderung für Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Denn tatsächlich gehört das einst bettelarme Brasilien längst zu den boomenden Schwellenländern; dass es zugleich zu einem Zentrum der sozialen Bewegungen geworden ist, ist dem Umstand geschuldet, dass sich die soziale Ungleichheit vor diesem Hintergrund eher noch vergrößert hat. Nicht umsonst wählen Ane und da Cruz für den wütenden, auf populistische Politiker gemünzten Protestsong "Cala a Boca" ("Halts Maul!"), das Stilmittel eines rebellischen, in den Jugendbewegungen der Favelas angesiedelten Baile Funk - mit elektronischen Effekten, die an einen Game Boy erinnern.
Treibende elektronische Rhythmen treffen auf traditionellen Kuduro, funkige Bläser und rockige Gitarren. Mit "Tropical New Wave" oder "Urban Brazilian Disco" versuchen die Künstler selbst, dieses farbenfrohe Stilfeuerwerk in einen begrifflichen Rahmen zu kleiden, der seinem grenzenlosen Charakter in Zeit und Raum gerecht wird. Pünktlich zur anstehenden Fußball-WM wirkt Da Cruz dabei zugleich wie ein Seismograph für die aktuelle Stimmung im Land, die authentische Stimme einer Generation, die soziale Gerechtigkeit und Teilhabe einfordert.